Assistenzsysteme für ein unabhängiges Leben (2024)

Im hohen Alter oder mit Handicap selbstbestimmt zu Hause leben, ist der Wunsch vieler Menschen. Technologische Neuerungen sollen das ermöglichen. Ambient Assisted Living (AAL) bezeichnet technologische Systeme, die sich in den direkten Alltag bestimmter Personengruppen integrieren lassen und ihnen eine wertvolle Unterstützung in vielen Lebenslagen bieten. So sorgen beispielsweise Sensoren, Roboter und digitale Lösungen für Vernetzung, Navigation und Sicherheit. Ein System, das mittlerweile als Einheit von Technik und Dienstleistungen verstanden wird.

Die Welt mit Ambient Assisted Living

Eine ältere Person lebt in ihren eigenen vier Wänden. Sie ist mit einem Rollator mobil und versorgt sich zum Großteil selbst. Ein ausgeklügeltes System von Sensoren, technischen Geräten und Dienstleistungen sowie die Familie unterstützen sie dabei, den Alltag bestmöglich zu meistern.

Die Sensoren erkennen beispielsweise, wenn die Person vergessen hat, den Herd abzuschalten. Der Boden registriert, wenn die Person gestürzt ist und das System alarmiert dann zunächst die Verwandten, die in der Nähe wohnen. Wenn diese nicht reagieren, wird automatisch ein Hausnotruf abgesetzt.

Begibt sich eine ältere oder hilfsbedürftige Person nach draußen, wird sie hingegen von einem Sprachcomputer begleitet, der immer ansprechbar ist und jederzeit auf Fragen antwortet. Unterwegs erkennen die Computersysteme, wenn die Person ihre gewohnte Umgebung verlässt. Der Assistent unterstützt bei der Navigation oder informiert Angehörige, Freiwillige oder professionell Pflegende.

Bisherige Entwicklung

Erste Aktivitäten im Bereich AAL mündeten bereits 2008 auf Ebene der EU in einem Förderprogramm, welches die Entwicklung solcher Lösungen anstrebte. National und international wurden zunächst vor allem technische Lösungen und Plattformen entwickelt. Die Zielgruppen? Ältere Menschen und Personen mit Unterstützungsbedarf sowie deren Pflegende und Verantwortliche.

Auf die Entwicklung der technischen Lösungen folgte die Konzentration auf die Untersuchung eines nutzerzentrierten Ansatzes. Dabei wurde auch die informelle und professionelle Sicht der Pfeger*innen bei der Entwicklung von technischen Lösungen verstärkt eingenommen, um auch ihnen eine Unterstützung zu bieten. Mit dem Fokus auf hybride Produkte, in diesem Fall die Kombination aus Technologien und Dienstleistungen, wurde die Vermarktung und auch entsprechende Entwicklungen von Geschäftsmodellen vorangetrieben. Zuletzt wurden innerhalb der Förderprogramme zusätzlich ELSI-Perspektiven (Ethical, Legal and Social Implications) gefordert, sodass auch ethische, (datenschutz-)rechtliche und soziale Fragestellungen immer stärker in das Blickfeld der Forschung rückten und behandelt wurden.

Aktuell gibt es weiterhin viele Förderprogramme in diesem Bereich. »Technik zum Menschen bringen«, gefördert vom BMBF, ist eines davon. Hier sind beispielsweise AAL-Projekte im Bereich Augmented Reality und Robotik geplant.

Projekte und Initiativen

Auch zahlreiche Fraunhofer-Institute sind an der Weiterentwicklung und den Projekten rund um AAL beteiligt und haben sich aufgrund der Bedeutung des Themas in der Fraunhofer-Allianz Ambient Assisted Living AAL zusammengeschlossen.

Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO ist neben dem Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik ISST und weiteren eines dieser Allianz-Institute und an einigen Projekten im Bereich AAL beteiligt. So zum Beispiel am Projekt »mobQdem« (Mobilität im Quartier trotz Demenz), welches sowohl die technologische als auch die nutzerzentrierte und ethische Komponente verdeutlicht.

Das bereits 2016 abgeschlossene Projekt befasste sich mit dem Erhalt der Lebensqualität von Menschen, die an Demenz erkrankt sind, und deren Partner*innen. Die demente Person erhielt ein bereits entwickeltes und erprobtes GPS-Tracking-System. Der oder die pflegende Angehörige konnte so die Position des Partners oder der Partnerin bestimmen und erhielt eine Warnmeldung bei Verlassen einer definierten Zone (Geo-Fencing). Viele Fragen mussten innerhalb des Projektes erörtert und beantwortet werden, unter anderem: Ist die Technologie ausgereift genug, um die Person auch wirklich zu finden? Zudem galt es ethische Aspekte zu berücksichtigen und zwischen der Einschränkung von Freiheitsrechten und Bewegungsfreiheit von dementiell Erkrankten und der Verbesserung der Lebensqualität des oder der Betroffenen und dessen oder deren Angehörigen abzuwägen. Hinzu kam die Problematik, dass die Technologie selbst nicht in der Lage war, die an Demenz erkrankte Person zurückzuführen.

Im Folgeprojekt »Ease-iT« wurden neben den pflegenden Angehörigen daher nach Alternativen im professionellen Umfeld gesucht und unter anderem der Prozess des GPS-Trackings in die Strukturen professioneller Pflegedienstleister integriert. Darüber hinaus wären aber auch Ansätze unter Beteiligung von Ehrenamtlichen denkbar.

Bezogen auf die Entwicklung der Forschung existieren auch vielfältige Projekte, die Pflegefachkräfte in den Fokus nehmen. Neben autonomen Robotik-Lösungen, die die Pflegekräfte begleiten, werden auch Exoskelette und deren Anwendung erforscht. Pflegende müssen häufig körperlich anstrengende Tätigkeiten ausüben. Das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA entwickelt daher im Projekt »ExoPflege« Exoskelette, die die Arbeit erleichtern können. Aber auch im Bereich der Schulung und Ausbildung können zukünftig Exoskelette zum Einsatz kommen. Im Projekt »ExoHaptik« wird unter Beteiligung des Fraunhofer IAO die Funktionsweise umgekehrt, sodass Belastungen simuliert werden können. Eine VR-Brille sorgt für die entsprechende Simulation der Umgebung und ermöglicht die Mixed-Reality.

Virtuelle Realität kennen viele aus dem Spiele-Bereich oder vielleicht auch aus dem Museum. Aber auch in der Pflege werden Nutzungspotentiale analysiert. Ältere Menschen können durch eine solche Brille beispielsweise alte Erfahrungen aufleben lassen, indem sie virtuell Orte ihres Lebens erneut bereisen. Im Projekt »Pflegebrille 2.0« wird erforscht, wie Pflegefachkräfte schnell relevante Informationen zu Patienten*innen und Pflegetätigkeiten erhalten können. Die Brille soll in diesem Fall wichtige Informationen in das Blickfeld der Nutzer*innen einblenden.

Doch es gibt nicht nur Hardware-Entwicklung, auch reine Software-Anwendungen werden innoviert. Das Projekt »eDEM-Connect«, an dem das Fraunhofer ISST beteiligt ist, hat das Ziel, eine chatbotbasierte Kommunikations- und Dienstleistungsplattform für pflegende Angehörige zu entwickeln. Der Chatbot soll durch Einsatz von künstlicher Intelligenz Angehörigen von an Demenz Erkrankten Informationen bedarfs- und situationsgerecht zur Verfügung stellen.

Mittlerweile werden viele Daten, davon einige äußerst sensibel, durch Sensoren, Plattformen und Nutzungsverhalten gesammelt. Daher ist es verständlich und notwendig, sich über Fragen zu Datenschutz und Datensicherheit sowie zu Berechtigungen und Datenhoheit Gedanken zu machen. Ein souveräner Umgang auf Seiten von Organisationen sowie Unternehmen, aber auch der Nutzer*innen selbst ist essenziell. Im Projekt »ePA-Coach« sollen beispielsweise ältere und weniger technikaffine Menschen dabei unterstützt werden, die elektronische Patientenakte zu verstehen und sie sicher und zielführend einzusetzen.

Auch bei Videoaufnahmen gilt es besondere datenschutzrechtliche Hürden zu meistern. Am Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS wurde aus diesem Grund SHORE® entwickelt. Der intelligente Sensor AVARD verarbeitet Gesichtszüge datenschutzkonform und überträgt ausschließlich anonymisierte Metainformationen. Das System erhielt hierfür auch das Siegel ePrivacyseal EU.

Es gibt auch Technologien, die den Forschungsstatus bereits verlassen haben und ein marktreifes Produkt vorweisen. Dazu gehört der sogenannte »Sensfloor®«. Hierbei wird der Fußboden mit Sensoren ausgestattet, die fallende bzw. liegende Personen sicher erkennen können und einen Notruf absetzten. Bereits 2012 wurde das entsprechende BMBF-geförderte Projekt abgeschlossen und befindet sich nun in der Anwendung. Mittlerweile vertreibt die Firma Future-Shape erfolgreich die Sensorböden. Neben Produkten finden aber auch Dienstleistungen den Weg in die Wirtschaft. Ein gutes Beispiel hierfür ist die SageLiving GmbH, ein Spinn-off des Fraunhofer-Instituts für Graphische Datenverarbeitung IGD. Sie unterstützt Endverbraucher*innen in der Auswahl, Installation und den Betrieb eines smarten Zuhauses.

Im Kontext von AAL gibt es mittlerweile einige Initiativen mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Dazu gehören beispielsweise der Smart Home & Living BW e.V. und der Fachausschuss bei der Deutschen Gesellschaft für Biomedizinische Technik (DGBMT). Hinzu kommt ein etablierter AAL-Kongress beziehungsweise dessen Fortbestehen in unterschiedlichen Kongressen.

Und in Zukunft?

Assistenzlösungen begleiten unseren Alltag immer mehr. Die kleinen Helferlein sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Während manche – auch junge – Menschen Vorbehalte haben, steigt die allgemeine Akzeptanz dennoch stetig. Wir werden in Zukunft mehr ältere Menschen haben, die noch aufgeschlossener gegenüber Technologien sind und diese bereits lange vor dem Älterwerden einsetzen. Themenfelder wie Künstliche Intelligenz mit Aspekten der Automatisierung von Prozessen, Service- und Assistenz-Robotik als Entlastung für Pflegende und Pflegebedürftige, Augmented Reality zur Erweiterung der Wahrnehmung und noch nicht bekannte Technologien werden bei AAL berücksichtigt werden und neue Dimensionen einbringen. Veränderungen in der Versorgung von Pflegebedürftigen und auch der Arbeitsbedingungen von Pflegekräften hin zu einer flexiblen Arbeit und Dienstleistungserbringung (New Work-Aspekte) stehen bevor. Auch hier werden sich zahlreiche neue technischen Lösungen finden.

(sst)

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